13

Ich habe gestern lange geschrieben und wenig geschlafen. Nun, an einem neuen Tag erfüllen sich meine Ängste nicht. Wider Erwarten ist die Klarheit geblieben, alle Gerüche und Farben des Vormittages dringen so intensiv in mich hinein, alles ist voller Bedeutung und reingewaschen von den Frühlingsschauern. Ich war lange spazieren und bei jeden neuen Ding, das sich meinem Blick darbot, erwartete ich, wieder in die Taubheit und Dumpfheit gezogen zu werden. Jede Bewegung, jede Stimme wurde ängstlich und mit sprungbereiten Geist beäugt. Nichts. Vielleicht habe ich gestern in meinem Kampf einen Tag mehr ausgehandelt. Vielleicht bleibt mir noch ein einziger Tag. Das heißt: Ich muss schreiben. Weiterschreiben.


14

In den Abdrücken meiner alten Gedanken sehe ich soviel Zynismus, soviel Leiden an dem, was nicht ist. Nun kann ich viel weiter sehen, als dieses Leid reicht, nun ist die Klarheit da: dass die Abgrenzung von Etwas, das Nichterreichenkönnen eines Seienden, das daraus re­sultierende Stolzwerden, dass all dieses nur ein erster Schritt ist zu sich selbst. Über dem Wissen um das Anderssein liegt immer der Wunsch nach Gleichheit, eine Abgrenzung setzt immer eine Schät­zung des Objekts voraus. Erst, wenn man ganz in sich hineingehen kann, wenn man sein kann und dorthin seinen Weg weitergeht, wenn man Andere nicht mehr sehen kann, nicht weiß, welche anderen Leben scheinbar einem verwehrt bleiben, weil man nicht weiß, was Leben ist, oder Menschen, oder Farben, wenn alles nur noch Ahnen und Tasten ist, dann erst wird der Weg eigen, dann erst wird der eigene Wert klar aus sich selbst. Ich sehe in meinen alten Gedanken soviel Stolz auf das Anderssein und gleichzeitig soviel Schmerz daran. Eine Überhöhung. Meine Wertschätzung allein durch die Menge an Leid erlebt. Ein Wissen um das Eine und Sensible und doch ein Schwergewicht der anderen Seite, das mich am Fliegen hinderte. Es ist klar und ich weiß wie notwendig dieser Zynismus ist, ein Schritt zur Sublimierung, auch ein Schritt zu einem Äußersten an Leidensfähigkeit. Jedoch das Erkennen im wahrhaften Sinne beginnt jenseits dieses Leidens.


15

Viele geschriebene Gedanken liegen vor mir, aber auch viele ungeschriebene; Erinnerungen und das Wissen um Zustände, die für mich schon als Kind so vertraut waren.
Schon immer war ich fasziniert von Bildern in meinem Kopf, die Situationen darstellen, in denen ich mich bewegen würde, eines Tages. So stellte ich mir eines vor, nämlich wie wunderbar es wäre, alt zu sein, und mit einem Regenschirm, oder Stock gestützt eine Allee hinauf und hinabzuwandern, während um mich herum vollster Herbst war, der Himmel bewölkt, Regengeruch und dieser in seiner Intensität von keinem anderen zu überbietende, unbeschreibbar wunderbare Geruch von welken, nassen Blättern, scharf und würzig und so ganz und gar Herbst. Dieses Bild schien mir, wenn ich es nur einmal in seiner Vollkommenheit erleben könnte, das ganze Glück zu sein, und ich wusste, ich könnte diese eine Handlung dann in alle Ewigkeit ausführen, hinaus und hinab wandern mitten im Herbst, melancholisch und so vollkommen schön.
Aber so sehr ich mich in diese Bilder wünschte, so sehr ich hoffte, dort einen Platz zu haben an den ich hingehörte – und hier beschreibt es nichts besser als ins Bild passen, denn ich wusste irgendwie, ich würde ein fehlendes Teil sein, und mit mir wäre dann eine Vollkommenheit erreicht, die das Universum, das ganze Leben aller Zeiten miterfassen würde, alle Fehler, alles Leid wären ausgemerzt, wenn ich nur dort hinein könnte – so sehr auch der Drang dorthin von mir Besitz ergriff, so ahnte ich doch, oder wusste es bisweilen beinah, dass, wenn ich selbst im Bild wäre, ich dann dieses Bild zugleich nicht betrachten können würde, und dann könnte ich, weil ich ja drin wäre, nie sagen, wann genau es vollkommen war: ob ich den Stock etwas forscher schwingen sollte, den Kopf etwas leichter neigen, ich würde es nicht sehen können. Und somit wäre alles umsonst, denn ich würde nicht wissen, ob es vollkommen sei.
Diese Problematik der fehlenden Doppelperspektive hat mich seit meinen frühesten Tagen nicht verlassen, und ich habe mir oft riesige Spiegel gewünscht, die überall in der Luft hängen könnten, und in die ich nur blicken müsste um zu sehen, ob es alles so richtig sei, ob ich in diesem Moment vollkommen sei, ob ich dann mir erlauben könnte, dies hart erarbeitete Glück zu spüren, oder ob ich einfach fortgehen müsste, um diese Dissonanz der Formen und Farben nicht noch zu vergrößern.
Ab und zu gab es sogar Augenblicke, wo erst der Blick in ein Schaufenster, oder in einen Spiegel mir eröffnete, in welch wunder­vollen Situation ich mich befand, welche Ausstrahlung von mir aus­ging und dann erst begann ich es zu fühlen, erschrocken, wie verspätet zu einer Schulstunde erschienen, aber dennoch mit vollster Kraft. Diese gesehenen Bilder hatten die Macht, mein Fühlen bis auf mehrere Stunden nach einer solchen Situation hin zu erhalten; sie waren in meinem Kopfe noch lange lebendig. Es hat mich immer gewundert, warum ich so oft nichts gefühlt habe, auch in Situationen, die mich eigentlich berührten. Vielleicht war es so, weil ein kleines Stück fehlte und meine Augen nicht fähig waren, die Größe des Ganzen ohne dieses Stück zu erschließen. Als wäre eine so wichtige und wohlmöglich doppeldeutige Stelle noch frei, so dass niemand sich ausmalen konnte, was dahinter verborgen sei, und somit die Regung, die es auslöste, doch immer nur auf der intellektuellen Ebene blieb und nicht hinabsank zu der kleinen Seele.




weiter---> 


Karita Guzik