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Jetzt, wo ich offen über alles nachdenke, wird mir immer klarer, wie sehr ein Teil von mir mit dem, was hinter dieser Wirklichkeit residiert, verschwistert ist, und wie Geschwister so haben auch wir unsere geheimen Spiele. Und wir wissen, in dem Moment, wo jemand – sagen wir mein Verstand, oder ein Mensch, oder ein Gott – hereinschaut, da zucken wir wie ertappt zusammen und bemühen uns so zu tun, als wüsste ich nichts von den vielen Täuschungen, als könnte ich nicht im Mindesten ihre einzige Gültigkeit infrage stellen, als wäre mir sogar die leiseste Möglichkeit eines solchen Verdachts niemals in den Sinn gekommen. Und doch wissen wir, dass es nur Schein ist, ein Spiel, unser Spiel, und wir können es mitspielen, so tun, als wären wir ernst und erwachsen, oder aber wir machen unsere eigenen Spiele daraus.
Eines dieser Spiele spielen wir vor dem Spiegel. Erst spielen wir Erwachsen, also ein Sein, wie es sich gehört: Ich sehe hinein, mein Spiegelbild sieht hinaus. Wenn der Verstand dabei ist, so sind die Bewegungen dieser meiner Schwester pflichtgetreu, auf die Sekunde pünktlich. Aber wenn wir einen Raum für uns haben, dann werden die Bewegungen nur noch halbherzig nachgemacht. Wir können dann anderes tun, ich kann mich vor den Spiegel so hinsetzen, dass ich sie, meine Schwester ansehe, und sie hingegen schaut heimlich fort. Ich kann ihr Halbprofil sehen, und ihre träumenden Augen, während ich direkt auf sie zuschaue. Dieses Spiel ist so einfach und doch so beglückend. Das Leben gibt mir die Möglichkeit ab und zu dem Wunsch nach einer zweiten Perspektive nachgehen zu können. Dann, wenn jemand hineinkommt, geschieht es oft, dass wir beide noch so versunken sind, dass auch dort die Bewegungen, die sie macht, langsamer, zögernder und träge kommen, so dass ich, um uns nicht zu verraten, bemüht bin, mich so wenig wie möglich zu bewegen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit jedes Eindringlings, sei er Mensch oder Verstand, auf Anderes zu lenken, bis sie, meine Spiegel­schwester, sich wieder gefangen ha.t
Ein anderes Spiel ist ähnlich dem Versteckspiel. Das Leben versteckt in Büchern, die ich lese, Bilder, und ich stoße dann darauf, wobei sie mich jedesmal aufs neue überraschen durch ihre Deutlichkeit und durch ihre Vertrautheit. Wenn ich Wörter auf Buchseiten ansehe, so ergeben sie – völlig los­gelöst von ihrer Bedeutung – ein Geflecht von dunklen und hellen, dichten und lockeren Stellen. Schon das Verhältnis eines Großbuch­stabens zu den folgenden kleinen hat einen eigenen Charakter. Bis­weilen ergibt diese Verteilung in ihrem Helldunkelkontrast ein Bild, das exakt mit der Helldunkelverteilung eines Ortes zusammenpasst, der sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Mein Sinn für Orte, für den Raum, den sie einnehmen, die Luft, die Farben, die Aufteilung und Perspektive ist, neben dem Geruchssinn, wohl mein feinster und intensivster, wenngleich auch alle anderen Sinne sehr stark entwickelt sind, oft zu stark für den Pegel, der in dieser Welt üblich ist. Diese Übereinstimmung von Licht und Schatten ist dann so genau, dass vor meinen Augen dieser Ort erscheint, mitten in der Geschichte, die ich lese, und ich klar und deutlich all seine Beschaffenheit, seinen Geruch, die Zeit, die dazugehört, sehen und fühlen kann, so dass die Handlung im Buch nun nur noch wie ein ferner Schleier ab und zu zu mir herüberwinkt.
Dieses Spiel hat kein Ziel außer dem, die scheinbare Ordnung der Wirklichkeit ein wenig zu verwirren und zu vertummeln. Und obwohl ich bei jedem Buch weiß, dass es mich auf einer weiteren Ebene an ferne Orte bringen könnte, so ist dieses Geschehen jedesmal so sehr intensiv und unvorhersehbar. Das Bewusstsein des Erkennens, dass hier wieder eine Fata Morgana auftaucht, wird von der Gegen­wär­tig­keit des Ortes fast zeitgleich verschluckt. Es sind soviel mehr Verbin­dungen in diesem Universum möglich als wir wahrnehmen: Wir erleben sie, ohne es zu wissen, und nur das genaue Sehen weit ab von der Erwartung, die durch das immerwiederkehrende Erlebnis des vermeintlich Gleichen eine bequeme Schneise geschlagen hat, nur das Vertrauen auf das, was man sieht, birgt die Möglichkeit, mehr zu erleben, tiefer zu erleben, aber auch schwerer, dichter, zerbrochener.


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Ich habe lange Zeit nichts Außergewöhnliches daran gefunden, mehrere Leben zugleich zu leben, wie hier beim Lesen zum einen in der Geschichte zu sein, von ihr total gefesselt, und dann genauso ganz woanders zu sein, in einer Landschaft, in einer vergangenen Zeit, und dabei in keinem von beiden wahrer oder realer zu leben, in beiden sich frei bewegen zu können, von beiden getrieben und in neue Ebenen gehoben zu werden. Es wurde mir erst mit den Jahren bewusst, dass dies für die meisten Menschen nicht so ist, und ich fing an, darüber zu schweigen. Aber das Schweigen ist der Beginn des Vergessens, und so verschwand zwar nicht die Fähigkeit zu mehreren Leben, die Dichte ihres Auftretens wurde jedoch geringer. In machen Zeiten war sie fast ganz verschwunden, und obwohl ich im Außen oft mehrere Leben lebte, war dies doch nicht dasselbe. Die wahre Fähigkeit war fort, so wie ich selber mich habe fangen lassen von der äußeren Seite, weg vom Kern, weg von Spiel und Traum hin zu ihren so scheinbar ernsten, selbstmotivierenden Forderungen.


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Ich brauche Menschen, nahe Menschen um mich herum. Dieses Geständnis war lange Zeit vor mir verborgen, lag unter einem See von Unabhängigkeit und vermeintlicher Stärke, die in mir nur durch das Wissen von Nichtübereinstimmung entstanden ist. Ich brauche Menschen, und dies schließt mein ganzes Sein mit meiner Seele, meine Vertrautheiten mit mir, meine Zeit für mich allein, meine heimlichsten Gewölbe und scheuen Zärtlichkeiten, meine kostbarsten Momente mit ein. Menschen, die mir meine Seele lassen, ohne auf sie eifersüchtig zu sein, Menschen, die meine Eigenarten fördern und wachsen lassen und dennoch bleiben. Menschen, deren Seelengewebe leicht, hauchzart, und ein wenig gröberen Stoffes ist als meins, die dennoch ahnen, dass dort etwas Zarteres ist, ohne es aufdringlich erforschen zu müssen. Menschen, die schließlich in ihrer größeren Einheitlichkeit der Bewegung ein Gravitationsfeld erreichen, welches mich daran hindert, ganz und gar zu entschweben. Das Schweben ist ein mir angeborener Zustand und die Fähigkeit, leichter zu sein als Luft, ist gekoppelt an eine immer geringere Fähigkeit, mich auf dem Boden zu halten, mich zu verständigen, mich zu ernähren, im einfachen Sinne: zu überleben.






Karita Guzik