9

Wie wenig Zeit mir bleibt. Ich bin nun 31 und ich habe gesammelt und
beobachtet, aber seit einigen Jahren kam nichts als die Bestätigung des
bisher Gesehenen. Nun ist es Zeit. Alles zerrinnt und das einzige, was
hinzukommen wird, sind die Ablenkungen vom Weg. Diese waren in
den letzten Jahren zahlreicher und dauernder als jemals. Mit 20 war
mein Kopf jede Sekunde voller Erkennensdurst und Karita, mit 27
hingegen tauchte ich ab in die Welt, lebte ihre Regeln mit und verlernte
das Sehen und obwohl ich noch sah, war ich undicht: all das Gesehene
rann aus mir heraus wie aus einem Sieb und ich war nicht bei mir, nicht
immer jedenfalls.
Menschen glauben zu leicht, dass man Ablenkungen nötig hat.
Sie verlieren sich und begründen es in einer Nichtdurchführbarkeit
des dauernden Bei-sich-Seins. Ich weiss aber, für mich gab es Jahre des
Bei-mir-Seins, jede Sekunde, jede Situation, immer ganz ich. Die Zeit,
die ich an anderes verloren habe war für mich keine Bereicherung, brachte,
außer Statistik kein wirklich tieferes Wissen um mich selbst, sondern nur ein
Wissen um den Kontrast. Vielleicht bin ich seitdem so anfällig geworden für
das Fortgezogen werden von Kern. Früher war ich dem Kern vielleicht nicht
nahe genug, weil ich mehr verstehen wollte. Nun bin ich es, trotz des Wissens
nicht, weil ich in dort angelernte Verhaltensmuster falle. Synapsen werden,
wenn sie häufig benutzt werden, stärker ausgebaut. Ein einfaches Mitleben
von karitafremden Situationen führte schon dazu, Wege zu verbreitern,
die ich nie hatte gehen wollen, und nun stand ich da, und fand den Trampelpfad
nicht mehr, der mich zu mir selbst führen konnte.


10

Ich weiss nicht, wieviel wache Zeit mir noch bleibt, deswegen muss ich dies,
was ich bisher gesehen und erlebt habe niederschreiben in der Form, die
mir gegeben ist. Ich weiss, ich werde nur ein Buch schreiben, nur dieses
eine Buch. Karita. Mein Name. Mein Leben. Keine Handlung, keine Geschichte.
Nur Gedanken, ein Sehen, Hören, Fühlen, unverständlich, tausendfach
wiederholt, aber in jedem Wort Ich. Nur dieses Buch. Dann wird alles gesagt
sein. Für immer. Und nicht verloren sein. Morgen werde ich mich fragen, was
dies denn ist, was ich gesehen haben soll, was so wichtig ist. Ich weiss es nur
jetzt und werde es nicht wieder so wissen, und so wird es jedem gehen, der
in diesem einen Augenblick diese Worte liest. Es ist so klar, es liegt so offen dar.
Erklären? Wie, wozu? Sehen und Wissen. Nebel ist das Leben, wenn man es
rückwärts betrachtet, und nur für Menschen mit feineren Sinnen wird der
Verlust der Sicht nicht zum Straucheln führen. Feines Tasten an Nebelfäden
-- und alles ist wieder klar.


11

Ich blättere in meinen jahrelangen Aufzeichnungen, gehe jede Notiz durch und
suche nach wahren Beobachtungen, nach Spuren der Klarheit in der ganzen
Unnahbarkeit des Seins. Fremd bin ich mir, wenn ich dies lese, weil ich
es morgen lesen müsste um mir wieder nah zu sein. Diese meine Tiefe sogar,
in Verzweiflungen und Zynismus geschrieben, ist wieder Oberfläche im
Vergleich zu diesem nahen Moment. Nur weniges besteht heute, und morgen
wird es so viel sein, so gute Gedanken, aber dabei doch so schal, so gefangen
in Mustern. Ich nehme sie alle. Ich kann sie nicht aussortieren, nicht trennen.
Ich weiss, heute werde ich dies sehen und morgen jenes, und beides war ich,
auch wenn es mich fortführen wird morgen, fort, fort ins soziale Geflecht und
seine Regeln, ins emotionale Geflecht und seine Masken, fort vom Sein und
dennoch so verankert in ihm.


12

Ich merke, wie schwer es mir fällt, meine vergangenen Ichs und deren
Gedanken hier mit hinein zu nehmen. Ich lebe so sehr im Jetzt. Ich
hatte immer schon Schwierigkeiten, Entwicklungen glaubhaft zu erzählen,
von der alten Perspektive her, eingefühlt und nicht mit dem Wissen vom
Jetzt. Ich kann immer nur in diesem Moment sein, alles andere ist Legende.
Niemals werde ich wissen, wie es damals wirklich war, welche dieser
Gedanken, die ich doch vor mir liegen habe, welche davon wirklich denen
nahe kamen, die unausgesprochen in meiner Seele herumflatterten, schwer
zu haschen und schwer lebendig zu erhalten, wenn sie einmal in die
Gefangenschaft der Worte gerieten. Ich kann nichts von der Welt wissen
außer diesen einzigen Moment in seiner ganzen Unzulänglichkeit -- dies
ist das einzige. Alles andere, auch all das, was hier vor diesen Worten weiter
oben stand, ist schon verronnen, nicht mehr nachzufassen, nachzuleben.
Fort. Dieses Wissen erleichtert mir wieder meine alten Gedanken: wenn ich
mir denke, dass sie nur zufällige, vielleicht irreale Relikte sind von ehemaligen,
vielleicht dagewesenen Gedanken, die von einem Wesen, das vielleicht ich
war, gedacht worden sind, dann sind sie mit mir und dem Hier und Jetzt
nicht mehr verbunden als jedes andere Wort. Ich kann nur das tun, was
ich mit allem tue, das mir in solchen Momenten großer Lebensnähe unter
die Finger kommt: Nachspüren, wieviel Wahrhaftigkeit zu mir durchdringt,
und dieses  Gefühl, wie subjektiv es auch sein mag , ist das einzige, was
 mich dorthin bringt, dort wo der Kern ist, und es tut es mit einer Sicherheit
und Wirklichkeit, die diese Augenblicke so intensiv macht und die mir immer
wieder neuen Grund gibt zum Kern zu gelangen, was auch immer dort auf
mich warten mag. Meine Visionen, mein Sehen.

weiter---> 


Karita Guzik